Ärztinnen dürfen trotz Schwangerschaft operieren

21. November 2023

Langes Stehen, scharfe Instrumente und eine hohe Arbeitsbelastung – Die Arbeit im OP birgt Risiken und kann für Schwangere nicht ganz ungefährlich sein. Bisher wurden unsere Ärztinnen aus diesem Grund bei einer Schwangerschaft direkt ins Beschäftigungsverbot geschickt. Neue Konzepte für eine differenziertere Gefährdungsbeurteilung des Arbeitsplatzes eröffnen Frauen jedoch die Möglichkeit, auch weiterhin chirurgische Eingriffe vornehmen zu können. Insofern keine betrieblichen und gesundheitlichen Gründe dagegensprechen, sollten Frauen selbst entscheiden und ihrem Beruf, ihrer Leidenschaft und ihrer Karriereplanung weiterhin nachgehen dürfen. Als christliches Unternehmen ist uns die Selbstbestimmung unserer Mitarbeiter:innen immer ein besonderes Anliegen. Aus diesem Grund hat die AGAPLESION gAG nun eine konzernweite Initiative gestartet. 

Frau von Struensee, warum ist Ihnen das Thema so wichtig?

Constance von Struensee: Frauenförderung ist mir ein persönliches Anliegen. Darunter fallen ganz viele Themen, eines davon ist die Weiterbeschäftigung schwangerer Ärztinnen und Chirurginnen. Wenn keine betrieblichen und gesundheitlichen Gründe dagegensprechen – warum sollten sie nicht weiterarbeiten können? Alles andere wäre diskriminierend. In Zeiten des Fachkräftemangels brauchen wir alle guten und ambitionierten Expert:innen.

Dr. Mehrnoosh Akhavanpoor: Gut 60 Prozent der Student:innen im Fach Humanmedizin und mehr als die Hälfte der chirurgisch aktiven Weiterbildungs-assistenten sind Frauen. Medizin ist weiblich! Es ist eine Vergeudung von Talenten und Ressourcen, wenn wir sie nicht unterstützen. Übrigens geht es den Frauen nicht nur um die Karriere. Laut einer Umfrage des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgie (BDC) und der Initiative Operieren in der Schwangerschaft (OPidS) zählen zu den Top-Gründen die Freude am Operieren, der Teamgeist und die Kollegialität. Erst dann folgen die Karriere und angestrebte Facharztabschlüsse. 

Sie beide sind selbst Mütter. Wie haben Sie das Gespräch mit Ihren damaligen Chefs in Erinnerung, als Sie sagten: „Ich bin schwanger“?

Akhavanpoor: Ich habe mir den Zeitpunkt der Schwangerschaft genau überlegt, obwohl das natürlich schwierig ist; bei Frauen tickt die biologische Uhr. Das Bekanntmachen habe ich lange herausgezögert. Als ich das Gespräch mit meinem damaligen Chef gesucht habe, waren meine Worte: „Es tut mir leid, aber ich bin schwanger.“ Das ist schon ein bisschen verrückt, weil ich objektiv betrachtet Grund zur Freude hatte. Aber meine Aussage zeigt, dass ich sehr angespannt war. Wir hatten zu viel Arbeit, als dass wir einen personellen Ausfall gebrauchen können.  

von Struensee: Ich bin zwar keine Ärztin, aber den Stress, Kind und Karriere unter einen Hut zu kriegen, kenne ich gut. Gearbeitet hatte ich damals bis zuletzt. Nach acht Wochen war ich bereits wieder zurück im Job, das hatte ich von Anfang an kommuniziert. Tatsächlich waren die Konkurrenz und der Wettbewerb groß, ich habe mir auch selbst viel Druck gemacht. Man will unbedingt mithalten, und das geht nur mit einer perfekten Organisation als Mutter und Arbeitnehmerin. Meiner Tochter gegenüber hatte ich oft ein schlechtes Gewissen, und gleichzeitig die Sorge, am Arbeitsplatz den Anschluss zu verlieren. Als Frau in einem von Männern dominierten Umfeld wird es als Mutter nicht einfacher. Diesen Stress wünsche ich keiner Frau. Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sie ihre Karriereplanung trotz Schwangerschaft verlässlich und ohne Druck fortsetzen können.

Frau Dr. Akhavanpoor, warum haben Sie den Zeitpunkt geplant?

Akhavanpoor: Chirurginnen haben einen engen Zeitplan. Zwölf Jahre vergehen vom Studienbeginn bis hin zum Ende der Facharztausbildung. Mein Sohn kam an Heiligabend 2017 zur Welt, im April bestand ich meine Facharztprüfung, wurde im Juni Oberärztin. Mittlerweile habe ich zwei Kinder, bin Chefärztin und 38 Jahre alt. Viele meiner früheren Kommilitoninnen konnten noch nicht einmal ihre Facharztausbildung beenden. Sie wurden schwanger, hatten familiär und beruflich nicht die Unterstützung, die ich habe, oder andere Barrieren. Ich war eine Maschine im Dauerbetrieb. Frauen denken immer, dass sie mehr Leistung bringen müssen, um ein angebliches Defizit auszugleichen, das erlebe ich oft. Das Defizit bedeutet: Ich könnte schwanger werden. 

von Struensee: Nichts ist schlimmer, als wenn Frauen im ärztlichen Dienst ihre Schwangerschaft aus Angst vor einem Beschäftigungsverbot möglichst lange verschweigen und sich damit selbst gefährden. Narkosegase, Röntgenstrahlen, Infektionsrisiken und die Arbeit im OP sind nur einige reale Gefahren, denen sie ausgesetzt sind. Hier müssen wir genau hinschauen und Vorkehrungen treffen.

Wie gewährleisten Sie das bei AGAPLESION?

von Struensee: Zusammen mit dem:der Chefärzt:in und der Personalabteilung schaut die Frau, welche Aufgaben sie weiterhin übernehmen und in welchen Bereichen sie arbeiten kann. All das geschieht auf Grundlage einer individuellen Gefährdungsbeurteilung. Die Weiterbeschäftigung wird entsprechend angepasst oder aber ein betriebliches Beschäftigungsverbot ausgesprochen, sollte keine Lösung gefunden werden können. Denn die Frage der Haftung ist ganz wichtig! Auch beim Gewerbeaufsichtsamt bzw. Regierungspräsidium wird offiziell ein Antrag gestellt. Natürlich finden regelmäßig Gespräche statt, damit sofort eingegriffen werden kann, wenn sich z.B. der Gesundheitszustand verändert.

Wie informieren Sie Ihre Einrichtungen über die Neuerung?

von Struensee: Unser Zentraler Dienst Personalmanagement und die Kolleg:innen aus den Personalabteilungen vor Ort arbeiten eng zusammen. In Expert:innenboards haben sie das Thema Weiterbeschäftigung persönlich besprochen, dazu stellen wir Arbeitsmaterialien wie z.B. eine Checkbox für die Personalabteilung und die direkten Vorgesetzten zur Verfügung. Sie sind die Multiplikatoren, die die Mitarbeiter:innen vor Ort für das Thema sensibilisieren. Natürlich ist eine Weiterbeschäftigung mit bürokratischem Aufwand und zeitweisen Restrukturierungen verbunden. Auf der anderen Seite bietet sie wirtschaftliche Anreize. Eine schwangere Ärztin fällt nicht von heute auf morgen aus, der Betrieb kann weitestgehend weiterlaufen, teure Leihkräfte müssen nicht eingestellt werden.   

Frau Dr. Akhavanpoor, ist das Team kooperativ, wenn eine Kollegin schwanger wird? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Akhavanpoor: Meiner Erfahrung nach bieten die Kolleg:innen ihre Unterstützung gern an. Immerhin profitieren sie davon, wenn sie selbst Nachwuchs planen. Sowohl Frauen als auch Männer! Nach der Geburt kann die Abmachung des Paares lauten: Jetzt tritt der Mann beruflich kürzer. Im Krankenhaus muss natürlich sichergestellt sein, dass die Arbeit reibungslos weiterläuft. Das kann dazu führen, dass Aufgaben oder Arbeitszeiten neu organisiert werden müssen. Aber das geht, ich selbst habe schon viele Ideen in der Schublade, sollte bei uns ein Teammitglied Nachwuchs bekommen.

Frau von Struensee sprach eben den Konkurrenzdruck an. Auch in der Chirurgie besetzen meist Männer die Chefarztstellen.

Akhavanpoor: Als Assistenzärztin hat man eigentlich verloren, wenn man schwanger ist. Man arbeitet auf eine höhere Position hin, hat sich einen Zeitplan gesetzt, es ist klar, wer demnächst aufsteigt. Eine längere Auszeit setzt das Karrierekarussell neu in Gang. Mein damaliger Chef hat an mir festgehalten. Ich denke, das liegt vor allem daran, dass ich schon vor meiner Schwangerschaft immer vollen Einsatz gezeigt habe. Nach Feierabend habe ich unter dem Mikroskop die mikrochirurgischen Techniken an Schweineherzen geübt und im Urlaub Kongresse besucht oder in anderen Kliniken mitgearbeitet. Dass ich acht Wochen nach der Geburt wieder da bin, war klar. So eine Verpflichtung ist purer Stress, denn wer weiß gesichert, dass der schnelle Wiedereinstieg möglich ist? Und falls nicht, ist meine Karriere dann hinfällig? Die ersten Wochen habe ich nur geweint, weil ich meinte, ein Neugeborenes im Stich zu lassen. Das Narrativ der angeblichen „Rabenmutter“ gilt nicht für Männer.

Wären Sie entspannter gewesen, wenn eine Weiterbeschäftigung schon damals gesetzlich möglichen gewesen wäre?

Akhavanpoor: Davon gehe ich fest aus. Zum einen wäre ich nicht so fixiert gewesen auf den „richtigen“ Zeitpunkt meiner Schwangerschaft, zum anderen hätte ich die Bekanntgabe nicht so lange herausgezögert. Ich kann es nicht oft genug betonen: Es gibt gute Gründe, sich gegen eine Weiterbeschäftigung zu entscheiden. Und davon abgesehen: Die Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung trotz Schwangerschaft ist schön, reicht aber bei weitem nicht aus.

von Struensee: Ja, gesellschaftlich müssen wir unbedingt umdenken. Wir brauchen Nachwuchs und gleichzeitig Frauen, die trotz Schwangerschaft und Familie Karriere machen können. Und das ohne diesen Leistungsdruck, den Frau Dr. Akhavanpoor gerade benannt hat. Insofern ist eine Weiterbeschäftigung nur der Anfang. Wenn das Kind da ist, geht es nahtlos weiter. Kinderkrankheiten, Eingewöhnungen im Kindergarten und Schließzeiten und sind nur einige Beispiele. Wir brauchen flexible Arbeitszeiten, die Möglichkeit zum Homeoffice, geteilte Führungspositionen, Ferienbetreuungen, Betriebskindergärten, Programme zur Frauenförderung. Bei AGAPLESION arbeiten wir konzernweit intensiv an solchen Maßnahmen bzw. setzen sie schon um.

Kann die Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung eine Bürde sein?

Akhavanpoor: Der Punkt ist mir ganz wichtig. Eine Weiterbeschäftigung darf auf keinen Fall Druck ausüben. Weder für die Frau selbst, wenn es in der Schwangerschaft z.B. zu Komplikationen kommt. Noch für andere Frauen, die meinen, dass sie trotz Schwangerschaft ebenfalls weiterarbeiten müssen, weil eine Kollegin das getan hat. Jede Frau muss für sich selbst entscheiden können, welchen Weg sie wählt.

Jetzt sitzen Sie als Chefärztin in Bewerbungsgesprächen. Sprechen Sie das Thema Schwangerschaft bewusst an?

Akhavanpoor: Natürlich frage ich nicht, ob die Bewerberin sich Kinder wünscht oder schwanger ist. Aber ich nehme ihr schon im Vorfeld den Druck, weil ich ihr meine Unterstützung auch im Falle einer Schwangerschaft anbiete. Mittlerweile kann ich sogar explizit auf unsere konzernweite Initiative hinweisen, das ist natürlich toll. In meiner Abteilung arbeiten aktuell drei Kolleginnen, im nächsten Jahr sind wir zu viert. Hinterher haben sie mir gesagt, dass ihnen meine offenen Worte im Bewerbungsgespräch sehr gefallen haben. Unserer Gesellschaft muss endlich klar werden: Frauen sind keine tickenden Zeitbomben, weil sie Kinder kriegen können, sondern die Zukunft.

 

Ein Gespräch mit

Constance von Struensee,
Vorständin Personal, AGAPLESION gAG

Dr. med. Mehrnoosh Akhavanpoor

Chefärztin, Klinik für Plastische, Rekonstruktive, Ästhetische und Handchirurgie, AGAPLESION DIAKONIE KLINIKEN KASSEL